Wer arm ist, versteckt es lieber

Viele nehmen nicht in Anspruch, was ihnen eigentlich zusteht – aus Scham und Angst

45_Armut (c) Forster Seniorenberatung.
Datum:
Di. 12. Nov. 2013
Am Ende des Gesprächs stehen Edith E. (vollständiger Name der Redaktion bekannt) die Tränen in den Augen. Aus Angst vor der Zukunft, vielleicht auch ein bisschen aus Scham. Edith E. empfindet sich als arm. „Kein Geld zu haben, ist für mich seit fast 30 Jahren Thema“, gibt sie zu.

Sozialleistungen will sie dennoch nicht beantragen. Eine Scheidung, alleinerziehend mit zwei Kindern – das hat die ehemals gut verdienende Medizinisch-Technische Assistentin in die Armutsfalle getrieben. Mittlerweile muss sie viel Geld investieren, um ihre labile Gesundheit einigermaßen aufrechtzuerhalten. Nicht nur eine Nahrungsmittelallergie treibt ihre Ausgaben nach oben. 946 Euro Frührente bekommt sie. Damit ist sie nach gängiger Definition nicht arm. Dafür hat sie 66 Euro zu viel zur Verfügung. Dennoch reicht es vorn und hinten nicht. 300 Euro Miete, 160 Euro Krankenversicherung, 30 Euro Strom, fast 40 Euro für die Monatskarte, Unfall- und Haftpflichtversicherung und seit neuestem auch der Rundfunkbeitrag sind Kosten, die sie nicht weiter reduzieren kann oder will.

 

Sie weiß nicht, wo sie noch weiter sparen soll

„Ich hatte jahrelang keinen Fernseher, weil ich mir die GEZ-Gebühren nicht leisten konnte. Jetzt muss ich zahlen.“ Ihr Festnetztelefon hat sie deshalb gerade abgemeldet. Auf das Busticket will sie nicht verzichten. „Das ist vielleicht der einzige Luxus, den ich mir neben den Ausleihgebühren der Stadtbibliothek leiste.“ Edith E. weiß nicht mehr, wo sie sonst noch sparen soll. Mobil will sie bleiben. „Bereits jetzt fühle ich mich sehr isoliert, weil ich mit anderen nichts unternehmen kann, was Geld kostet“, sagt sie. „Da will ich wenigstens aus meiner Ein-Zimmer-Wohnung einmal herauskommen.“ Ob ihr staatliche Leistungen zustehen, weiß Edith E. nicht. „Allein gehe ich auf keinen Fall zum Amt.“ So hat die Anmeldung ihrer persönlichen Insolvenz Spuren hinterlassen.

Viele, die ihnen zustehende Leistungen zum Lebensunterhalt nicht beantragen, fühlen sich genauso: macht- und hilflos. Jeder Zweite hat in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2007 dies geäußert. Diese Studie zeigt auch auf: Edith E. ist kein Einzelfall. Auf jeden Bezieher von staatlichen Unterstützungsleistungen kommen noch einmal fast drei Menschen, die ein Anrecht hätten, dies aber nicht durchsetzen. Die Studie spricht von zwei Millionen Betroffenen. „Es sind Rentner, geringfügig Beschäftigte und normale Arbeitnehmer, die Aufstockungsleistungen nicht in Anspruch nehmen“, weiß Ralf Welter, Diözesanvorsitzender der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Aachen.

In diesen Familien gibt es oft auch Kinder, die dann ebenfalls in verdeckter Armut leben. „Vielen erscheint es würdelos, trotz Einkommen auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Bei vielen ist es aber auch schlicht fehlende Information.“

 

Auch in Armut gibt es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft

Welter beschäftigt sich seit längerer Zeit mit dem Thema verdeckte Armut. „Es gibt leider nur selten Publikationen dazu. Woran soll man es auch messen?“, sagt er. Bei Tafeln treffe man oft die in verdeckter Armut Lebenden. Sie nutzten besonders zum Monatsende das Angebot, im Supermarkt ausrangierte Ware zu bekommen. „Zur Behörde wollen sie aber nicht“, weiß Welter.

Auch Edith E. war mal bei einer Tafel, will aber nicht wieder hin: „Da braucht man starke Ellbogen, um sich durchzusetzen. Dafür bin ich nicht gemacht.“ Selbst in Armut eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Auch bei Ruheständlern ist eine große Schere auszumachen: Es gibt viele, die sich keine Sorgen um den finanziellen Teil ihres Lebensabends machen müssen. Doch jede zweite Rente liegt derzeit bei nur rund 700 Euro. 1,7 Millionen Rentner haben noch einen 400-Euro-Job. „Bei vielen, besonders Frauen, reicht es nur für Miete und Essen. Sie leben von der Substanz. Aber nach zehn Jahren ist auch der beste Wintermantel letztendlich aufgetragen“, meint Welter.

 

Ist man arm, ist man auch noch selbst daran schuld

Was Rentnerinnen und Rentner umtreibt, trotz Mini-Rente keine Grundsicherung zu beantragen, erfährt Maria Mallmann, Leiterin der Forster Seniorenberatung, regelmäßig in Beratungsgesprächen: „Sie haben für ihre Kinder ein Erbe angespart und Angst, an diese Reserve rangehen zu müssen. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder als Unterhaltspflichtige herangezogen werden. Oder sie schämen sich schlicht dafür, auf Leistungen vom Staat angewiesen zu sein. Sie wollen keine Bittsteller sein.“ Welter ahnt, wo solche Einstellungen zum sozialen System herrühren: „In Deutschland ist Armut sehr stark individualisiert. Ist man arm, ist man selbst schuld daran.“

Über Geld redet man auch im Café Miteinander der KAB im Aachener Stadtteil Driescher Hof nicht. Beim wöchentlichen gemeinsamen Frühstück oder beim gemeinsamen Kochen kommen Bewohner des barrierefreien Hauses, in dem das Café untergebracht ist, und Menschen von außen zusammen. Vielen geht es darum, nicht allein essen zu müssen, Freunde und Bekannte zu treffen oder einfach auch eine Beschäftigung zu haben. „Es strukturiert meinen Tag“, begründet Angelika Janßen – nach Jahren in der Altenpflege arbeitsunfähig und schlecht zu Fuß – zum Beispiel ihr regelmäßiges Kommen zum Frühstückstreff, obwohl sie dafür einen weiten Weg auf sich nehmen muss.

„Auch wenn Armut hier kein Gesprächsthema ist, halten wir die Preise bewusst niedrig“, sagt Helmut Goblet, einer der ehrenamtlichen Organisatoren des Cafés Miteinander. Geld spielt nämlich doch eine Rolle. „Es gab einen Männerkreis. Der ist daran gescheitert, dass die Teilnehmer kein Geld übrig hatten, um gemeinsam etwas zu unternehmen.“

 

KAB fordert Mindestlohn oder Grundsicherung

Was kann der Ausweg sein? Die KAB und andere soziale Träger fordern grundlegende Sozialreformen – zum Beispiel einen Mindestlohn von 9,60 Euro, die automatische Ausbezahlung der Grundsicherung ohne langwierige und komplizierte Antragstellung oder eine Grundrente von mindestens 1100 Euro, die durch eine Lebensleistungsrente zusätzlich aufgestockt wird. Außerdem müsse im sozialen Wohnungsbau deutlich mehr passieren. „Viele ziehen heute schon aus Aachen weg, weil sie die Mieten nicht bezahlen können. So entstehen Ghettos, die wir alle nicht wollen.“ Auch die Familienförderung gehöre gänzlich umgekrempelt: „Bildung und Teilhabe für Kinder sollte gänzlich kostenfrei sein.“ Welter hofft, dass Papst Franziskus mit seiner besonderen Aufmerksamkeit für die Armen auch in der deutschen Gesellschaft zum Vorbild wird. „Im Moment leben wir in einem Schamland!“