Von alleine ändert sich nichts

Die Digitalisierung als Herausforderung

4.02_Quadrat (c) Thomas Hohenschue
Datum:
Di. 22. Nov. 2016
Die Computer ziehen in unseren Alltag ein. Den Trend kennen wir seit drei Jahrzehnten.
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Aber was gerade passiert, ist neu. Über das Internet werden Daten und Dienste zugänglich, die ganz neue Dinge ermöglichen. Was das für unser Gemeinwesen bedeutet, ist noch nicht klar. Wir müssen darüber reden.

100 Frauen und Männer aus Politik, Gesellschaft und Kirche taten dies am vergangenen Donnerstag in Herzogenrath. Ihr Thema: der Einfluss der Digitalisierung auf die Arbeitswelt, auf die Beschäftigten und auf Langzeitarbeitslose. Die Dialogtagung zeigte: Es gibt vieles zu bereden, um den Tatsachen und Entwicklungen ins Gesicht zu schauen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Eine erste Annäherung über eine Problematik, in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Was ist nochmal dieses „Industrie 4.0“?

Dieses Schlagwort geistert inzwischen durch alle Gazetten. Gemeint ist: Die Wirtschaft vollzieht einen tief greifenden Strukturwandel hin zu einer stark vernetzten, digital gesteuerten Echtzeitproduktion. Das heißt auf gut Deutsch: Alles kommt auf den Prüfstand, wie es sich effizienter organisieren lässt. Computer übernehmen Tätigkeiten, die bisher von Menschen ausgeübt wurden. Und zwar nicht nur schwere körperliche Arbeiten, wie es zum Beispiel Industrieroboter seit langem tun, sondern auch geistige Aufgaben. Nicht umsonst geraten zurzeit Banken und Versicherungen in den Fokus der Diskussion. Viele ihrer Dienste lassen sich noch umfassender als bisher automatisieren.

Was bedeutet „Industrie 4.0“ für die Arbeitsplätze?

Die Entwicklung deutet auf einen drastischen Rationalisierungsschub hin. Er verstärkt, was die elektronische Datenverarbeitung seit etwa 40 Jahren in Unternehmen möglich macht. Das bedeutet zunächst, dass Tätigkeiten wegfallen. Es kommen aber auch neue hinzu. Wie die Bilanz am Ende aussieht, kann man nicht pauschal sagen, es kommt auf Branche und Betrieb an. Eines aber ist nach Einschätzung von Experten wie dem Marburger Sozialethiker Franz Segbers klar: Die Anforderungen an die Beschäftigten steigen und steigen. Nicht alle erfüllen sie und halten ihnen stand. Und es gibt weitere Effekte, neben einer wachsenden Arbeitsverdichtung. Viele Beschäftigte verlieren die Kontrolle über ihre Zeit, die Arbeit verfolgt sie elektronisch bis nach Hause. Gesund ist das nicht, weder für den Beschäftigten selbst noch für seine familiären und sozialen Beziehungen.

Was bedeutet „Industrie 4.0“ für den Arbeitsmarkt?

Experten beobachten: Der Umbau der betrieblichen Strukturen und Abläufe mit digitalen Mitteln wird dazu genutzt, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung abzubauen. Neue Jobs sind häufig prekär, befristet, schlecht bezahlt, das Tarifrecht ist ausgehebelt. Die Technik gibt der Liberalisierung des Arbeitsmarktes einen neuen Schub. Neue Märkte von Dienstleistungen entstehen, die über das Internet organisiert werden. Betriebsräte sind in diesem Segment der Wirtschaft nicht willkommen, sondern werden zum Teil mit brachialen Methoden bekämpft. Völlig ihrer Schutzrechte beraubt sind moderne Nomaden, wie ihre Dienste als anonyme Einzelkämpfer minutengenau abrechnen.

Was bedeutet „Industrie 4.0“ für Langzeitarbeitslose?

So wie die Sache mit der Digitalisierung zurzeit läuft, gehen für Langzeitarbeitslose endgültig die Lichter auf dem Arbeitsmarkt aus. Arbeitsmarktforscher wie Frank Bauer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung NRW kennen die brutale Wirklichkeit in allen Details. Menschen, die schon länger als vier Jahre arbeitslos sind, haben bereits jetzt kaum eine reelle Chance auf Teilhabe. Das bezieht sich auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf den Wohnungsmarkt. Hinzu kommen eine oft als unwürdig empfundene Behandlung durch die Arbeits- und Sozialverwaltung und eine grobe Verachtung, die ihnen aus einem großen Teil der Gesellschaft entgegenschlägt. Was das mit den Menschen macht, hat Tim Obermeier vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik in direkten Gesprächen herausgefunden. Sie fühlen und wissen nur allzu gut, dass sie abgehängt und abgeschrieben sind. Und sie sind ihr Leben im Auf und Ab ihrer Maßnahmekarrieren satt. Industrie 4.0, wie es jetzt läuft, verschärft ihre Situation. Denn noch eines wird geschehen: Um die letzten zugänglichen Jobs konkurrieren künftig Absteiger aus der Mittelschicht, prognostiziert Hermann-Josef Kronen vom Koordinationskreis kirchlicher Arbeitsloseninitiativen im Bistum Aachen.

Ist diese Entwicklung unvermeidlich?

Nein, ist sie nicht. Franz Segbers sagt unmissverständlich: Die rasante Digitalisierung der Wirtschaft ist keineswegs eine naturgesetzliche Entwicklung, sondern ein Trend, hinter dem ökonomische und politische Interessen stehen. Konkret nennt Segbers die Finanzmärkte mit ihren stetig steigenden Erwartungen an die Rendite von Kapitalinvestitionen. Diesen Druck geben sie an die Unternehmen weiter. Der Sozialethiker schärft den Blick für den historischen Moment: Alle Rechte von Beschäftigten sind erkämpft worden. Bei jedem industriellen Rationalisierungsschub hat es solche Konflikte und Aushandlungen gegeben. Segbers sagt: Jetzt ist es wieder an der Zeit zu streiten und zu kämpfen.

Warum sollte sich die Kirche darum kümmern?

Generalvikar Andreas Frick bringt den kirchlichen Auftrag auf den Punkt: Wir dürfen keine Menschen als Verlierer zurücklassen. Pfarreien, Vereine und Verbände im Bistum Aachen erfüllen diesen Auftrag seit Jahrzehnten, indem sie Langzeitarbeitslose beschäftigen, qualifizieren, beraten und begleiten. Diese Arbeit ist anspruchsvoll und kostet viel Kraft, aber sie speist ihre Beharrlichkeit und Widerständigkeit aus der Heilsbotschaft des Evangeliums.

Die Hoffnungslosigkeit vieler Betroffener begleitet gleichwohl die Fachkräfte in den Maßnahmen. Fragen nach Alternativen tun sich auf, aus der Kenntnis der Lage und dem eigenen, christlichen Gewissen. Andreas Frick nennt in diesem Zusammenhang ein Wort von Papst Franziskus. Dieser sprach sich gegen eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ aus.

Wenn man das ernst nimmt, kann einem das Schicksal der Langzeitarbeitslosen nicht egal sein. Und im Bistum Aachen gibt es gar nicht so wenige, denen es nicht egal ist. Und eine zweite Sache: Um den Arbeitsmarkt ist es ganz und gar nicht so gut bestellt, wie offizielle Vermeldungen nahelegen. Was vermeintlich Vollbeschäftigung signalisiert, verdeckt eine große Zahl mieser Jobs. Nicht jede Arbeit ist eine gute Arbeit. Für diese Überzeugung streiten Christen immer wieder, weil die Gott gegebene Würde des Menschen Ausgangspunkt ihres Denkens und Handelns ist. Und auch das hohe Armutsrisiko von immer mehr Familien lässt sich aus den Amtszahlen nicht herauslesen. Bis in die Mittelschichten hinein ist das Gefühl der Unsicherheit aufgestiegen. Was das auf Dauer für den sozialen Zusammenhalt und für die Demokratie bedeutet, besorgt nicht nur Franz Segbers. Im nächsten Jahr stehen auch bei uns Wahlen an.

Wie kann es weitergehen?

So wie bisher jedenfalls nicht. Folgt man Franz Segbers, dann müssen nun Gewerkschaften, Kirchen und andere aus ihrem Tiefschlaf erwachen und sich in den aktuellen Strukturwandel einmischen. Das ist keine Einladung, Entwicklungen aus Prinzip zu blockieren. Denn grundsätzlich verteufeln möchte der Sozialethiker die neuen Technologien nicht: Auch diese haben das Potenzial, zu einem besseren Leben für alle beizutragen. Aber das geschieht nicht von alleine: Wenn es um Interessen geht, muss man sich dafür einsetzen. Wenn es also um die Verwirklichung von Idealen und Visionen geht, müssen nach dieser Lesart Christen aufstehen, sich verbünden, für das gute Leben streiten.

Und zwei alte Bekannte, für die sich gesellschaftspolitisch aktive Christen einsetzen, bekommen neue Argumente an ihre Seite: Ein öffentlich geförderter, sozialer Arbeitsmarkt muss her, mit einer langfristigen Finanzierung. Er gibt den Langzeitarbeitslosen einen Platz in einer Gesellschaft, in der sich der Wert eines Einzelnen stark von dem her definiert, was dieser tut. Für Menschen, die aus dem Rationalisierungsdruck des regulären Arbeitsmarktes aussteigen möchten oder müssen, bietet ein solcher sozialer Arbeitsmarkt neue Perspektiven.

Und dann ist da noch das bedingungslose Grundeinkommen, ein tiefer Eingriff in unser sozialrechtliches Gefüge wäre es. Es macht möglich, dass man sich neben dem Erwerb auch noch um Familie, das Gemeinwesen oder die Demokratie kümmert. Auch diese Vision ist etwas, das durch neue Technologien unterstützt werden kann. Allein: Es kommt darauf an, dass jemand sich darum kümmert. Von alleine geschieht es nicht.

4.04_Quadrat (c) Thomas Hohenschue
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